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Sep 28 2011

IceBluemchen

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40. Das Labyrinth der toten Gewässer

Es war ein verstörender Anblick, hatte noch keiner von ihnen einen so großen Schiffsfriedhof erblickt. Einst mächtige Kriegsschiffe, der Stolz der Marine, lagen hier abgewrackt und vom Meer und der Zeit stark gezeichnet. Manche Schiffe schwammen fest aneinander vertäut und mit mehreren Ankern an Ort und Stelle gehalten über dem Riff, wuchs Meeresmoos auf ihren Rümpfen, hingen sie voller Muscheln und auf ihren Masten saßen kreischend mehrere hundert Möwen, hatte ein jeder Schwarm sich eine dieser Schiffswrackinseln als Brutrevier auserkoren.
Aber neben den noch schwimmenden Schiffen, gab es auch die gesunkenen Wracks, die teils noch aus dem Wasser ragten. Unterwasser waren sie längst ein Teil des Riffes geworden, boten ihre Bäuche perfekte Höhlen für allerlei Getier und ein gutes Gerüst für Korallen und Anemonen.
Staunend sah Ace auf die vielen alten Schiffe, dachte darüber nach, wie viele Schlachten sie wohl geschlagen haben mochten und welche Piraten sie begegnet waren. Manche Schiffe wiesen starke Schäden auf, die von Kanonenkugeln herrührten, anderen Schiffe fehlten Masten, luckte nur noch ein Stumpf abgeschlagen aus dem Rumpf, lagen die gefallenen Masten meist an Deck.
Marco gab Anweisung zum Segelreffen, war es hier besser auf die Dampfmaschine auszuweichen, konnten sie mit ihr ihre Geschwindigkeit besser dosieren und somit auch etwas leichter manövrieren.
Langsam bewegte sich die Orca vor, war die Passage enger als gedacht und an mancher Stelle blieb ihnen nur ein halber Meter rechts und links oder unterm Kiel.
„Namur, es wird Zeit das du vorausschwimmst und uns den Weg weist.“, zwar hatte Marco den Kurs auf der Karte ausgesucht, aber es war dennoch besser auf Namurs Erfahrung unterhalb der Wasseroberfläche zu zählen, konnte er besser verborgene Riffausläufer und Untiefen erkennen.
„Ich will auch raus und vorfahren!“, sprach Ace und sah Marco bittend an, als wolle er einen Lolli von seinen Opa erbetteln. Kurz dachte Marco nach und befand die Idee eigentlich gar nicht mal so schlecht, konnte Ace so die Passage vorausfahren und gemeinsam mit Namur den sichersten Weg erkunden. Außerdem war er ihn so los, war Ace jetzt schon sehr aufgeregt und je näher sie ihrem Ziel kommen würden, je hippeliger und nerviger würde er wohl werden.
„Okay meinetwegen. Aber schone deine Schulter und bleib in Sichtweite oder nahe bei Namur. Wir wissen nicht, ob wir hier allein sind. Und ich habe keine Lust auf ungebetene Überraschungen.“
Freudestrahlend eilte Ace zu seinem Striker und gab Befehl ihn zu Wasser zu lassen. Etwas ungeschickt kletterte er an der Bordwand hinab, behinderte ihn seine geschundene Schulter sehr, schmerzte sie bei Belastung noch sehr, hielt er seinen Arm daher meist in einer Armschlinge ruhig und ohne Verband ging es gar nicht, hatte die Verletzung aber auch erst fünf Tage Zeit zum heilen.
Gemeinsam mit Namur erkundete Ace nun den Weg, gab Marco ihm Richtungsanweisungen per Teleschnecke. Ab und an musste Ace diese jedoch korrigieren, hatte Namur entweder ein zu hohes Riff entdeckt, wo die Orca einfach zu viel Tiefgang besaß oder die Passage war durch verschobene Wracks unpassierbar und sie mussten diese umschiffen.
Bereits mehrere Stunden irrten sie so durch das Labyrinth aus Wracks und Riffausläufern, als Ace plötzlich den Befehl zum vollständigen Stop erteilte. Vor ihnen erstreckte sich ein mächtiges Problem, musste sich beim letzten Unwetter mehr verschoben haben, als die Karte es verriet oder die Kartografen waren gar nicht so weit in den Schiffsfriedhof vorgedrungen und die Lage der Schiffe hier war vollkommen anders, als auf der Karte.
„Also entweder wir haben uns verfahren oder wir stecken in einer Sackgase fest.“, sprach Ace und sah gemeinsam mit Marco auf die Karte, konnten sie jedoch diese Stelle nur erahnen und ihre Befürchtung wurde bestätigt, das die Karte auch nur als Orientierung aber nicht als blinder Wegweiser zu gebrauchen war.
„Wir müssen uns erst einmal einen Überblick verschaffen, ob wir auf dem richtigen Weg sind oder zurücksetzen müssen.“, meinte Marco.
Der Plan sah vor, das Namur und Ace auf dem Seeweg nach einer passenden Passage oder Umschiffung suchten, während Marco sich in die Lüfte schwang und die Lage von Oben betrachtete.
Von hoch oben sah ihre Route gar nicht verkehrt aus. Alles war so, wie es auf der Karte eingezeichnet war, stimmte nur die Sperre vor ihnen nicht und gab es auch keine nahe Umleitung. So wie Marco die Lage einschätzen konnte, gab es von ihrer Position aus kein Weiterkommen, müssten sie fast komplett umkehren und eine gefährlichere engere Route nehmen.
Ace befand dies als keine Option. Sie waren bereits einen halben Tag unterwegs und würden noch einmal solang für den Rest benötigen. Würden sie jetzt für einen anderen Weg umkehren, hätten sie einen kompletten Tag verschwendet und irgendwie hatte Ace das dumpfe Bauchgefühl, das sie jeden Tag brauchen würden.
„Also ich bin dafür, das wir die Schiffe einfach soweit wie möglich zerlegen und versenken. Namur, ist genügend Platz unter den Schiffen, das wir anschließend mit der Orca über die Wracks hinweg können?“
„Es könnte knapp werden. Das Riff ist hier recht hoch. Ich kann nicht genau sagen, ob es reicht oder nicht.“, meinte der Fischmensch, hatten sich die Schiffe an einer wirklich ungünstigen Stelle verkeilt.
„Mhh, wir müssen es zumindest versuchen.“, entgegnete Ace, was blieb ihnen auch anderes übrig.
Einmal atmete er tief durch und machte sich bereit, wollte Ace die Schiffe höchst persönlich zerlegen und möglichst mehr zu Asche verarbeiten, als das Überreste sinken konnten. „Halt die Show aber in Grenzen, nicht das man uns Meilen weit sieht und hört!“, mahnte Marco ihn noch, befürchtete er, das es hier gleich ein gleißendes Leuchtfeuer geben könnte.
„Keine Sorge, die Schiffe sind schneller im Meer verschwunden, als das jemand was sieht und melden kann.“, beschwichtigte Ace und ging an sein Tatwerk.
Mit voller Wucht jagte er eine Feuerfaust über die See und hüllte die Wracks vollkommen in heiße Flammen ein. Er spürte wie das alte modrige Holz der plötzlichen Hitze nicht standhielt und schnell Feuer fing und sich knackend und knisternd dem tobenden Element ergab. Krachend fielen Masten, zerbarsten Planken und beißender schwarzer Qualm stieg in die Luft auf. ‚Nicht gut!’, dachte Ace und änderte seine Taktik, ließ er die Flammen nun in einem Wirbel tanzen, der den Qualm in seinem Sog wieder einfing. Kaum war dies geschehen, ließ Ace den Wirbel in sich zusammenfallen. Peitschend prasselte das Feuer auf die geschundenen Planken und zerbarst die Schiffsrümpfe in abertausende Stücke.
Nicht viel hatte Ace zum Sinken übergelassen, war die See nun mit zahlreichen kleinen Trümmern übersäht, Rauchschwaden eher Nebengleich waberten über die Wellen und die Passage war komplett frei. Schnaufend ließ der junge Kapitän sich aufs Deck fallen und atmete schwer durch. Auf so einer Entfernung hatte er die Flammen noch nie zu einem Feuergebot manipuliert, schlauchte es sehr und seine Schulter schmerzte und pochte wie verrückt.
„Alles okay?“, fragte Leigh, hatte sie das Schauspiel beobachten wollen und machte sie jetzt etwas Sorgen. „Ja, war wohl nur etwas zuviel für meine Schulter.“, gab Ace zu und schloss die Augen. Eigentlich wollte er sich nur kurz sammeln und den Schmerz abklingen lassen. Jedoch sein Körper war anderer Meinung, schnarchte es einen Augenblick später leise und Marco musste sich ein Lachen arg verkneifen, war dies für Ace wieder einmal voll typisch.
Den Weg frei, setzten sie ihre gefährliche Route fort, untermalt von leisen Schnarchgeräuschen gab Marco richtungsweisende Befehle oder ließ die Maschinen drosseln. Wie eine Schlange schlängelte sich ihre Route durch die Wracks, wurden die Schiffe immer älter und immer mehr Wracks ähnelten bizarren Geisterschiffen, wehten an einigen von ihnen zerfetzte modernde Segel, jaulte der Wind klagend in ihren geschundenen Rümpfen auf und so manches Schiff ließ sein schreckliches Ende durch gewaltige Einschusslöcher und geborstene Masten erahnen. Der Zahn der Zeit hatte ihnen eine düstere Färbung aufgetragen und so manches diente nun als Heimat seltener Hochseevögeln, die auf den Decks ihre Brutkolonien errichtet hatten und mitunter noch nie ein menschliches Wesen erblickt hatten.
Kreischend stob ein Schwarm Möwen auf, als die Orca an ihrer Kolonie vorbei zog und ihr leichter Rauchschweif sie erschreckte. Auch Ace schreckte auf, als das Geschrei ohrenbetäubenden Ausmaße annahm und verwundert sah er in den Himmel, wo an die hundert Seemöwen die Orca umkreisten und lautstark ihren Unmut kund taten.
„Blöde Geier…“, murmelte er und gähnte herzhaft. Wirklich ausgeschlafen war etwas anderes, aber zum einen könnte er bei diesem Gezeter und Geschrei eh nicht wieder einschlafen und zum anderen plagte ihn ein anderes Bedürfnis, was ihn erst einmal unter Deck trieb.
Aber nicht nur Ace ärgerten die kreischenden Vögel, wollten die ersten Piraten sie schon abschießen, hielt sie Marco jedoch zurück. „Ich mach das!“, war sein kurzer Kommentar, eh er sich in die Lüfte schwank und wie ein fliegendes Fegefeuer den Schwarm auseinander riss und in alle Himmelsrichtungen davon stoben ließ. Nach nur wenigen Minuten war der Geräuschpegel wieder auf ein annehmbares Level gesunken und Marco kehrte zurück aufs Deck.
„Und wie viel habe ich verschlafen?“, wollte Ace wissen, als er nach einer halben Stunde mit einem Apfel in der linken Hand zurück kam, hatte er seinen rechten Arm wieder in einer Armschlinge ruhend, merkte Marco auch, das der Verband neu war. „In einer Stunde geht die Sonne unter und hinter der nächsten Biegung haben wir unser Zielgebiet erreicht. Können wir nur Hoffen, das wir die Oro Jackson auch gleich finden.“, er deutete nach vorn und auf eine größere Ansammlung an Wracks, deren Masten steil in den Himmel ragten. Von ihrer Position aus, war noch nicht abzuschätzen, ob sich unter dem Gewirr an Masten auch die Oro Jackson befand oder ob sie zu einem der anderen Wrackknäuels gehörte, die es dort in der Nähe gab.
In Ace stieg die Spannung, konnte er es kaum noch erwarten. Abwesend aß er seinen Apfel und ließ seinen Blick immer wieder über die Wracks gleiten, die in der untergehenden Sonne immer näher kamen. Irgendwo dort war sie. Irgendwo dort wartete sie auf ihn. Und je näher er sie kam, je mehr verspürte er ein Gefühl von Freude.
Marco beobachtete Ace, dessen Blick abwesend über die See glitt und er sich plötzlich an seine Schulter fasste. „Alles okay mit dir?“, riss Marco ihn aus seinen Gedanken, sah Ace ihn fragend an. „Ja, ich bin nur Aufgeregt. Ich weis gar nicht, ob ich schon einmal so aufgeregt war, wie jetzt. Vielleicht als ich meinen Weg als Pirat begann oder das erste mal meine Teufelskraft beherrscht gegen einen Gegner einsetzte. Aber irgendwie ist diese Aufregung nicht damit vergleichbar.“ Er sah Marco fragend an, hoffte auf eine Antwort, wenn es darauf überhaupt eine Antwort geben konnte.
„Ich denk ich kann dich verstehen. Ich bin auch aufgeregt. Die Oro ist bemerkenswert und ich bin sehr gespannt auf sie und was uns erwarten wird. So geht es uns wohl alle und bald ist es soweit.“

Suchend sah Ace sich um und fuhr langsam um des Wrackknäul herum. Auf der Orca hatte es ihn keine zehn Minuten mehr gehalten, nachdem sie die Maschinen gestoppt hatten und für die Nacht vor Anker gingen. Er wollte die Oro Jackson noch heute finden, würde er sonst die Nacht wohl kein Auge zubekommen.
Marco ließ ihn, auch wenn er es besser gefunden hätte, bis zum Morgen zu warten und dann geordnet nach dem Schiff zu suchen. Jedoch ahnte er, das Ace dann den gesamten Abend und Nacht unruhig auf den Morgen gewartet hätte, ohne nur einen Augenblick zu schlafen. So würde er irgendwann müde werden und erschöpft zurückkehren.
Langsam umfuhr Ace ein Wrack, hatte er seit einiger Zeit das Gefühl, beobachtet und verfolgt zu werden. Er überlegte ob dies überhaupt möglich war, so tief in den toten Gewässern war es fast unvorstellbar, hier eine intelligente Seele anzutreffen. Vielleicht war es ja nur ein neugieriger Seebewohner, hatten sie ab und an Seehunde gesehen. Jedoch wollte Ace Gewissheit.
Mit einem Mal jagte er einen gewaltigen Feuerstoß durch die Turbine und brachte so den Striker in nur einem Augenblick auf eine enorme Geschwindigkeit, schoss über die See und jagte um das Wrack herum, wollte er so hinter den Beobachter kommen.
Gerade kam er um den Buck geschossen, als er einen kräftigen Schlag gegen seine Brust verspürte und keuchend ausatmete, schoss der Striker ohne ihn weiter, fiel Ace nun rücklings ins Meer und ging Augenblicklich unter.
Nur verschwommen sah er, wie ein Kraken ihn nachschwamm. Er hatte ihn vom Striker geschlagen, sah Ace Attacke wohl als Angriff und wollte nun seine Beute sichern. Ace spürte, wie sich einer der Tentakel um seine Hüfte schlag, aber der Kraken brachte ihn nicht wieder an die Oberfläche, zog ihn nun schneller in die Tiefe und fort von seiner alten Position.
Nicht viel Luft hatte Ace in seinen Lungen, brannten diese bald und ihm wurde schwummrig. Verbissen kämpfte er, nicht das Bewusstsein zu verlieren und kämpfte gegen den Drang an, auszuatmen. Aber bald konnte er nicht mehr. Sprudelnd entwich ihm die letzte Luft, stoben sie in großen Luftblasen davon, wähnte Ace sich nun seinem sicheren Ende nah. Benommen vielen ihm die Augen zu und entglitt in die Bewusstlosigkeit.

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